10.03.2023

Dem Leben dienen, mitten in der Stadt

Sr. M. Monja Schnider
Zürich, Schweiz

Ein Herz, das Ohren hat

   –  1. Teil  –

 

Seit einem halben Jahr wohne und lebe ich in der Stadt Zürich. Von einer Zweizimmer-Wohnung aus mache ich mich täglich mit Freude auf verschiedene Wege durch die Stadt. Morgens mit dem Tram (Straßenbahn) in eine Kirche zur heiligen Messe und später mit Tram und Bus unterwegs zur Arbeit oder zum Einkauf.

Spitzenmedizin und Spiritual Care

Als Marienschwester habe ich bei der Katholischen Kirche Zürich eine Anstellung für Klinikseelsorge. Meine Einsatzgebiete sind zwei führende orthopädische Kliniken. Hier begegne ich Menschen, die glücklich sind über erfolgreiche Operationen. Andere werden von einer Diagnose, die ihr Leben verändern wird, überrascht. Wieder anderen begegne ich in schmerzvollen Situationen mit langwierigen Leidensgeschichten oder Ängsten vor einer Operation.

In der sogenannten Spiritual Care begleiten wir Menschen in Krankheit und Todesnähe in ihren existenziellen, spirituellen und ethischen Bedürfnissen. Der Fokus der Behandlung unserer Patienten liegt, neben der körperlichen, psychischen und sozialen, auch auf der spirituellen Dimension. Oft weitet sich eine Begleitung auch auf An- und Zugehörige aus.

Meine reformierte Kollegin und ich unterstützen Menschen in spirituellen und religiösen Fragen in einer offenen ökumenischen und interreligiösen Grundhaltung. Ich suche einerseits katholische Patienten auf oder begegne anderen Patienten, unabhängig ihrer konfessionellen Zugehörigkeit. Andererseits wird die Seelsorge von Patientinnen und Patienten selbst, von Angehörigen, der Pflege oder dem ärztlichen Personal gerufen.

Wenn Augen „sprechen” und die „Sonne aufgeht”

Im Rehabilitationszentrum für Para- & Tetraplegie (Querschnitt- oder komplett Lähmung) begegne ich Männern und Frauen oder Jugendlichen, die vorübergehend oder für immer im Rollstuhl verbringen. Sie werden durch ein ganzes Heer von Pflegepersonal, Fachärzten, Psychologen und Therapeuten kompetent begleitet und erlernen mit hartem Training sich im Alltag wieder zurecht zu finden und eine möglichst hohe Autonomie zu erreichen.

Hier bedeutet ein Besuch oder eine Begleitung durch uns Seelsorgende eine willkommene Abwechslung und wichtige Ergänzung. Manchmal wird ein Scherz oder mehrmalige Begegnungen unterwegs zum „Türöffner”. Die Gespräche mit der Seelsorgerin und der Marienschwester führen meist auf eine andere Ebene, als jene mit Pflegenden und Ärzten. Ein Unfall, eine Krankheit verändert die Perspektive auf das Leben – es stellen sich neben der körperlichen Genesung auch spirituelle, existenzielle Fragen.

Patienten, die im Glauben beheimatet sind, schätzen einen Besuch, das Gespräch und gemeinsame Beten ganz besonders. Doch auch Patienten, die wenig mit Glaube oder Gott unterwegs sind, haben Sehnsüchte und Fragen, die über alles „Machbare” und Sichtbare hinaus gehen. „Schön, dass Sie kommen – wenn Sie da sind, geht die Sonne im Zimmer auf!” So wurde ich einmal von einem Patienten, der sich als nicht religiös bezeichnete, begrüßt.

Zweifel und Fragen mit aushalten

Da ist beispielsweise Herr S., der in Folge eines Treppensturzes daheim, über Monate in unserer Rehabiliatationsklinik war. Bereits beim ersten Besuch fanden wir einen guten Draht zueinander und dies obwohl, wie er betonte, er nicht mehr an Gott glauben könne. Wir unterhielten uns, im wahrsten Sinn des Wortes, über Gott und die Welt. Sportbegeistert liess er sich kein Spiel der Fussballweltmeisterschaft oder Skirennen entgehen – normalerweise durfte ihn nichts dabei stören, aber wenn ich kam, durfte der Fernseher schweigen. Ich hielt seine Zweifel und Fragen mit ihm aus. Mit der Zeit betete ich auf seinen Wunsch hin bei ihm und für ihn. So baten wir oft am Ende eines Gespräches um den Segen Gottes. Herr S. erzählte seinen Angehörigen jedes Mal voller Freude, dass die Schwester wieder bei ihm war. Gemeinsam erlebten wir Hoffnungen auf eine Heimkehr in sein Haus, und Tiefschläge, wenn diese wieder zerbrachen. Herr S. ist am 9. Februar verstorben. Durch die regelmässigen Besuche entwickelten sich auch mit den Angehörigen Gespräche und eine Begleitung im Prozess des Abschiednehmens. Noch immer bin ich in Kontakt mit einer Tochter und der Ehefrau.

Meist lockert ein Scherz

In der orthopädischen Klinik sind die stationären Aufenthalte oft sehr kurz, nur drei bis vier Tage. Wenn ich als Marienschwester in die Zimmer eintrete, reagieren Patienten sehr unterschiedlich. Manche sind spontan erfreut, andere erst etwas irritiert. Doch liegt dies nicht nur am Schwesternkleid, sondern an der Tatsache, dass sie von der Klinikseelsorge besucht werden.

Einigen Patienten wird bewusst, dass sie kaum noch praktizieren oder an Gott glauben. Meist lockert ein Scherz oder das Erkundigen nach ihrem Befinden die Patienten und sie beginnen zu erzählen, auch oft die Geschichte(n), warum sie nicht mehr in die Kirche gehen oder nicht an Gott glauben. Es entstehen wertvolle Momente, in denen Sinn- und Glaubensfragen doch einen Raum finden. Und dies ist für mich nicht zuletzt auch der Wirkung des Schwesternkleides zu verdanken.

Nein, die Schwester soll kommen!

Eine Frau erschrak sehr, als ich ins Zimmer eintrat. Doch eigentlich besuchte ich ihre Bettnachbarin. Nach dem Gespräch mit den zwei anderen Patientinnen nahm die Frau ebenfalls das Gespräch mit mir auf. Etwas schüchtern fragte sie daraufhin, ob ich sie am nächsten Tag auch besuchen würde. Mit dieser Patientin, die aus der Kirche ausgetreten ist, entwickelte sich über eine längere Zeit eine intensive, wertvolle Begleitung. Als sie nach zwei Monaten wieder zu uns in die Klinik kam, bat sie, sie hätte gern Besuch von der Seelsorgerin. Die Pflegerin meinte, ja, die reformierte Seelsorgerin sei da, sie würde sie gleich anrufen. Daraufhin meinte die Patienten: „Nein, die Schwester soll kommen! – Es macht auch nichts, wenn sie erst am Montag kommt.”

– Fortsetzung folgt –